BVG 21 – Anatomie einer Reform

Montag, 24. Apr. 2023

Die Reform der Zweiten Säule will die Umwandlung von Alterskapital in Renten an gestiegene Lebenserwartung und gesunkene Renditen anpassen und so die Umverteilung von aktiv Versicherten zu Rentnern abbremsen. Die von der Senkung des Umwandlungssatzes am meisten betroffene Übergangsgeneration soll dabei teilweise entschädigt werden. Trotz Annahme durch das Parlament ist die Reform noch nicht in trockenen Tüchern. Es gilt als so gut wie sicher, dass das gegen die «BVG 21» ergriffene Referendum zur Abstimmung kommt. So oder so lohnt sich ein Blick auf die wichtigsten Änderungen.

Der Befund ist nicht neu: Die Lebenserwartung der Menschen steigt. Gemäss Bundesamt für Statistik beträgt die Lebenserwartung bei Geburt für Frauen schweizweit derzeit 85,7 Jahre, für Männer 81,6 Jahre. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrug die durchschnittliche Lebenserwartung in der Schweiz bei Geburt weniger als 50 Jahre.

Der perfekte Sturm
Die zweite Säule (Berufliche Vorsorge, BVG) wird durch Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge sowie den Ertrag, der mit dem angesparten Kapital der Versicherten an den Finanz- und Immobilienmärkten erzielt wird, finanziert. Dieser «dritte Beitragszahler» spülte seit der Finanzkrise aufgrund der zur Ankurbelung der Wirtschaft gesenkten Zinsen deutlich weniger in die Kassen. Die gestiegene und weiter steigende Lebenserwartung würde aber eigentlich das Gegenteil verlangen, nämlich dass mehr für die lebenslangen Renten auf die Seite gelegt werden kann. Daher wird seit Jahren Geld aus dem Anlageertrag zur Verstärkung der Rückstellungen für die garantierten Renten abgezweigt – die Umverteilung von den Erwerbstätigen zu den Rentenberechtigten ist längst im Gange. Nachdem seit langem klar war, dass die demografische Alterung Anpassungen irgendwann unumgänglich machen würde, erwies sich die Finanzkrise von 2008 und der darauffolgende Krebsgang der Renditen am Kapitalmarkt als ein Wendepunkt. Es war klar, dass ein Handeln dringend ist.

Gehandelt wurde aber nicht. Es dauerte fast weitere zehn Jahre, bis eine Reform zur Abstimmung kam, sie wurde 2017 zudem vom Souverän abgelehnt.

Worum geht es?
Dreh- und Angelpunkt der Reform ist die Senkung des Umwandlungssatzes. Verbessern soll sich zudem die Situation für Personen mit tiefem Einkommen und Teilzeitbeschäftigte, indem die BVG-Eintrittsschwelle gesenkt und ein lohnabhängiger Koordinationsabzug eingeführt wird. Ausserdem werden die Altersgutschriften (Beitragszahlungen bzw. Lohnabzüge) gestrafft, wobei insbesondere die Sozialabgaben bei über 55-jährigen Erwerbstätigen gesenkt werden. Die Massnahmen erlauben es in den Augen des Parlaments, das Endaltersguthaben zu erhöhen und damit langfristig die Senkung des Umwandlungssatzes zu kompensieren.

Tieferer Umwandlungssatz
Der Mindestumwandlungssatz in der obligatorischen beruflichen Vorsorge sinkt mit Inkrafttreten der Reform von 6,8 auf 6 Prozent. Die Massnahme trägt der höheren Lebenserwartung und der Situation auf den Finanzmärkten Rechnung, die den aktuellen Satz nicht mehr finanzieren können. Der Umwandlungssatz ist seit langem zu hoch, um die garantierten Renten durch das Restkapital und die Marktzinsen finanzieren zu können. Durch die Senkung soll auch der Umverteilung von Erwerbstätigen zu den Rentnerinnen und Rentnern entgegengewirkt werden. Denn in der 2. Säule ist eine solche Umverteilung nicht vorgesehen.

Rentenzuschlag für Übergangsgeneration
Damit das Leistungsniveau trotz gekürztem Umwandlungssatz gehalten werden kann, sind Ausgleichsmassnahmen für betroffene Personen vorgesehen. Kern des Konzepts ist ein lebenslanger Rentenzuschlag für die sogenannte Übergangsgeneration, also die ersten 15 Jahrgänge, die nach Inkrafttreten der Reform pensioniert werden. Anspruch auf den Rentenzuschlag haben Personen, die mindestens 15 Jahre im BVG versichert waren und die letzten zehn Jahre vor dem erstmaligen Bezug der Rente ununterbrochen in der Schweiz AHV-pflichtig waren. Bei Kapitalbezug besteht kein Anspruch auf den Rentenzuschlag. Die Höhe des Rentenzuschlags ist lebenslänglich fixiert.

Wer zum Zeitpunkt der Pensionierung über ein Altersguthaben von 215100 Franken oder weniger verfügt, hat Anrecht auf den vollen Zuschlag. Dieser beträgt für die ersten fünf Jahrgänge 2400 Franken, für die folgenden fünf Jahrgänge 1800 Franken, und für die letzten fünf 1200 Franken jährlich. Versicherte mit einem Altersguthaben von 215100 bis 430200 Franken haben Anspruch auf einen abhängig vom Altersguthaben degressiv abgestuften Zuschlag. Wer noch mehr Guthaben hat, erhält keine Kompensation.

Inklusivere Vorsorge
Die Eintrittsschwelle, die besagt, für wen überhaupt eine Pensionskasse geführt werden muss, wird von heute 22050 Franken auf 19845 Franken gesenkt (90 Prozent des aktuellen Werts). Von der Änderung sind rund 100000 Personen betroffen: 70000 wären neu in der zweiten Säule obligatorisch versichert, 30000 wären mit einem höheren Lohn versichert.

Der Koordinationsabzug ist neu nicht mehr fix, sondern entspricht 20 Prozent des AHV-Lohns. Heute wird ein fester Betrag von 25725 Franken vom Lohn abgezogen, und zwar unabhängig vom Beschäftigungsgrad. Der versicherte BVG-Jahreslohn wird neu bei 80 Prozent des AHV-Lohnes festgesetzt (bis zu einer Höhe von 88200 Franken). Somit braucht es den minimalen koordinierten Lohn nicht mehr und es wird sichergestellt, dass immer 80 Prozent des jeweiligen Lohns versichert sind.

Die Altersgutschriften werden vereinfacht
Es gibt nur noch zwei statt vier Stufen von Lohnbeiträgen an das BVG, der Zuschlag für Personen ab 55 Jahren entfällt. Bisher betrug die Gutschrift in der Altersklasse von 25 bis 34 Jahren sieben Prozent, von 35 bis 44 Jahren zehn Prozent. Neu soll der Abzug von 25 bis 44 mit neun Prozent immer gleich sein. Eine ähnliche Vereinfachung ergibt sich für die Altersklasse von 45 bis 65 Jahren, wo neu einheitlich vierzehn Prozent vom Lohn für die berufliche Vorsorge abgezogen werden müssen. Bisher galten fünfzehn Prozent für 45- bis 54-Jährige und achtzehn Prozent für 55- bis 65-Jährige.